Schlagwörter
Alltag, Angst, Fehlgeburt, Gedanken, Gefühle, Panik, Schwester, Tagebuch, Tod, Trauer, traurig, Vergangenheit
Heute folgt ein längerer Teil meiner Vergangenheit über meine Schwester Leah, die leider zu früh auf die Welt kam (mit Original Tagebucheinträgen von damals), sowie ein paar Sätze über die psychische Erkrankung meiner Mutter. Falls es euch zu lange ist, scrollt einfach weiter 😉
Es war anfang 2004, zu einer Zeit, in der Gedankenschmiedin 12 Jahre alt war. Gedankenschmiedin fuhr wie immer mit dem Bus nach Hause, klingelte und ihre Mutter öffnete ihr die Tür. Nach einer kurzen Begrüßung meinte ihre Mutter: „Ich habe eine Überraschung für dich, Gedankenschmiedin!“ und lächelte dabei. Gedankenschmiedin wunderte sich, zog sich schnell um und ging in die Küche, wo ihre Schwester und Mutter schon ungeduldig auf sie mit dem Essen warteten. Sie hatte Post bekommen. Schnell öffnete sie den Umschlag und staunte nicht schlecht. Da hatte sie doch tatsächlich bei einem Gewinnspiel eines Spielwarengeschäfts einen „Hauptgewinn“ erspielt! Noch nie hatte sie bisher etwas gewonnen! Sie strahlte über beide Ohren. Doch da wusste sie noch nicht, dass der Tag noch eine weitere Überraschung für sie bereithielt…
„Das merkte ich, als Mama mir langsam erzählte, sie wäre heute beim Arzt gewesen und die Untersuchungen hätten ergeben, dass Mama schwanger ist!!! Das heißt, dass ich eine kleine Schwester oder einen kleinen Bruder bekommen werde! Ich freue mich ja soooooo! Ein kleines Geschwisterchen hatte ich mir schon immer gewünscht! Ich hoffe, dass das Baby gesund zur Welt kommt!“
Gedankenschmiedin freute sich auf ihre Geschwisterchen. Sie durfte niemandem davon erzählen. Aber sie freute sich doch so! Deshalb erzählte sie ihren Freundinnen in der Schule, dass im Sommer etwas ganz großartiges sein würde. Genaueres könne sie aber noch nicht verraten…
3 Monate später…
„Hi Tagebuch! Es ist so schrecklich. Mama hatte das Gefühl, dass das Baby kommt. Jetzt ist sie im Bett und es ist nicht sicher, ob sie ihr Kind behält. Ich bete, dass sie es behält. Dass alles wieder gut wird. Sie traut sich nicht aufzustehen. Papa ruft, dass sie jetzt in‘s Krankenhaus fahren. Er ruft Oma an, dass sie kommt…“
Gedankenschmiedin machte in jener Nacht kaum ein Auge zu. Sie weinte. Sie hatte Angst. Um ihre Mutter und um das ungeborene Kind. Am Tag zuvor hatte sie sich ihren ersten Klingelton („Just one last Dance“ 😛 ) auf ihr Handy geladen. Und so spielte sie diesen die halbe Nacht ab, um sich irgendwie ein bisschen zu beruhigen und sich irgendwann in den Schlaf zu heulen…
Am nächsten Tag…
„Hi Tagebuch! Es ist schreeeeecklich! Als ich von der Schule zu Oma kam (Mama noch im Krankenhaus), empfing mich Papa und zog mich in Omas Wohnzimmer. Er berichtete mir mit verheulten Augen, dass das Baby gestern viel zu früh auf die Welt gekommen ist. Ich finde es so ewig schrecklich, dass das langersehnte Geschwisterchen tot ist! Ich halte es nicht aus. Ich hatte mich so darauf gefreut ihm alles zu zeigen, es spazieren zu fahren, usw.. Ich weine ständig. Ich möchte mit jemandem darüber reden, aber es ist niemand hier. Ich begreife es nicht, wieso ließ Gott das kleine Ding einfach sterben? Papa hat gesagt, dass es als es tot war, ganz friedlich da lag. Ich glaube ich möchte nie schwanger sein! Ich glaube auch, dass ich niemals wieder lachen kann.
Als wir später in‘s Krankenhaus sind um Mama zu besuchen, weinte ich ständig. Auch als sie mir die drei Fotos vom Baby gezeigt hat. Auch als sie mir die Karte gezeigt hat, mit Fußabdrücken. Die sind so klein! Als wir wieder gegangen sind, sah ich am Empfang ein Plakat mit der Aufschrift „Frühchen“ und darunter ein Foto von einem kleinen Baby. Es hat mir beinahe mein Herz gebrochen…
Ich bin so traurig, dass du nicht da bist. Wir alle, aber ich am meisten. Doch ich freue mich die zu sehen, wenn ich auch eines Tages im Himmel bin… Papa hat zu Mama gesagt, dass Gott dich vielleicht bei sich für irgend eine Aufgabe braucht. Aber das tröstet mich nicht!
Jedes Mal werde ich traurig, wenn ich an das Kleine denke. Egal ob ich irgendwelche Babys sehe, mir Gespräche darüber anhören muss oder wenn ich die Fotos und die Fußabdrücke anschaue, ich muss immer weinen. Ich hatte mich einfach zu früh auf das Kleine gefreut. Aber es ist doch trotzdem mein Geschwisterchen, oder? Ich hatte mir fast jeden Tag Namen für das Kleine überlegt. Ich hatte mir überlegt, wo wir das Bettchen usw. hinstellen könnten.
Ich finde es gemein, dass Opa gesagt hat: „Bei Gedankenschmiedin und ihrer Schwester hat es sich gelohnt, dieses Mal nicht!“ Warum hat er so gesprochen? Es hat sich doch gelohnt, sonst gäbe es später im Himmel mal eine Person weniger. Und außerdem ist es doch trotzdem mein Geschwisterchen, auch wenn es tot ist! Ich liebe es doch und ich werde es nie vergessen…“
Einige Tage später…
„Papa hat im Krankenhaus angerufen. Die haben gesagt, dass es ein Mädchen war. Deshalb heißt es Leah. Ich muss immer noch jeden Tag daran denken und weinen. Ich hätte einfach so gerne noch ein Geschwisterchen gehabt! Auch die Fußabdrücke schaue ich mir jeden Tag an. Die sind irgendwie das Schlimmste, was mir von Leah übrig geblieben ist. Fotos sind Fotos. Aber die Fußabdrücke sind von Leah. Ich weiß, dass ihre Füße mal das Papier berührt haben. Und wenn ich es anfasse, werde ich immer sehr traurig…“
Weitere Wochen sind vergangen…
„Es ist immer noch das gleiche. Jeden Abend und auch sonst muss ich echt so weinen. Und einschlafen? Das kann ich erst spät. Eigentlich träume ich jede 2. Nacht von Leah. Immer sehe ich sie dann vor mir, wie sie lacht, im Kinderwagen sitzt und ich sie schiebe. Das ist so furchtbar! Es ist einfach so schlimm für mich, dass sie nicht da ist. Das Allerschlimmste aber ist, dass ich einfach weiß, wie schön es mit ihr gewesen wäre. Ich finde sie so süß und niedlich. Schade, dass ich dich nicht mehr gesehen habe, Leah! Ich hätte wenigstens Abschied nehmen können!
Papa und Mama möchten in ein paar Wochen mit uns evtl. in den Urlaub fahren. Das finde ich irgendwie toll, aber irgendwie habe ich Angst, dass ich Leah damit weh tun könnte. Schließlich haben sie vor Leahs Tod gesagt, dass wir wegen Mamas Schwangerschaft nicht in den Urlaub gehen. Und jetzt doch!? Ich finde der Urlaub wird dann doch auch nur durch Leah ersetzt!!!“
Weitere zwei Monate später…
„Vor ein paar Tagen hatte ich wieder so einen Traum. Ich ging spazieren. Aber nicht allein, sondern mit meiner ca. 2-jährigen Schwester Leah Hand in Hand. Ich war sooo glücklich. Doch dann hatte ich in meinem Traum plötzlich Angst, dass sie sterben könnte. Dann verschwand sie plötzlich und ich suchte sie verzweifelt. Nach einiger Zeit hatte ich sie gefunden. Wir liefen weiter, ich immer noch glücklich und ängstlich wie zuvor. Dann klingelte mein Wecker. Ich wollte verhindern, dass Leah wieder verschwindet. Doch dann musste ich wieder feststellen, dass alles nur ein Traum war. Hinterher war ich wieder traurig, wie immer…
Einmal hatte ich einen weiteren Traum. Ich stand an Leahs Grab und weinte. Ich weinte richtig im Schlaf und danach natürlich auch wieder…
Solche Träume machen mich immer über mehrere Tage hinweg traurig…“
Weitere Aufzeichnungen dazu fehlen leider…
Gedankenschmiedin kann sich nicht mehr an wirklich viele Dinge ab dieser Zeit erinnern. Außer, dass sie noch lange Zeit wegen Leah traurig war. Da hat sie sich immer ein Haustier gewünscht um nicht so allein zu sein. Doch ihre Eltern mochten keine Haustiere. Das wäre doch so furchtbar, wenn diese sterben würden, hieß es immer.
Häufig wurde sie gefragt, wie es denn ihrer Mutter gehen würde, nach ihr fragte niemand. Bekannte kamen um ihrer Mutter ihr Beileid auszusprechen. Gedankenschmiedin fand das immer sehr traurig, doch sie musste anwesend sein, so wie sich das eben gehörte wenn Besuch da war. Und so musste sie sich alles etliche Male anhören. Am liebsten hätte sie geheult, sie konnte es einfach nicht mehr hören, doch sie riss sich zusammen…
Gedankenschmiedins Mutter wurde schließlich depressiv. Sie schlief viel im abgedunkelten Schlafzimmer. Sie bekam Angstzustände und Panikattacken und konnte ihre Kinder oftmals zu keinen Terminen (Arzt, usw.) mehr begleiten.
Im Sommer folgte dann ein Urlaub in Italien, in dem ihre Mutter eine Panikattacke in der Pizzeria erlitt. Mit Händen und Füßen und ohne Italienisch-Kenntnisse, versuchte Gedankenschmiedin die Leute um ein Wasserlappen für die Stirn zu bitten. Es dauerte lange, bis der Krankenwagen kam. Sowohl ihre Mutter (mit Medikamenten vollgepumpt), als auch Gedankenschmiedin können sich an die Tage danach und an die Heimfahrt nicht mehr erinnern.
Auch was die Monate danach geschah, entzieht sich Gedankenschmiedins Erinnerung.
Sie weiß nur noch, dass die Eltern sich immer häufiger gestritten haben. Die Mutter war in Therapie und beide Elternteile gingen schließlich einige Zeit lang zu einer Paarberatung. Nach außen hin sollte das aber niemand wissen. Niemand sollte sich Gedanken machen. Alles sollte wirken, als wäre nichts gewesen. Doch Gedankenschmiedin hatte sowieso niemanden, mit dem sie darüber hätte reden können…
Die Streitereien zwischen den Eltern wurden immer mehr und ihr Vater war schließlich der Meinung, eine Haushaltshilfe zu engagieren oder die Kinder wegzugeben, als die Mutter nicht mehr konnte…
Irgendwann folgte der Konfirmandenunterricht. Für Gedankenschmiedin war dies teilweise eine traurige Zeit. Ihre Eltern hatten nicht viel Zeit für sie. Da sie regelmäßig die Gottesdienste besuchen musste, war sie selbst an Weihnachten allein in der Kirche ohne Familie. Und der Pfarrer meinte hinterher beim Abstempeln lassen (für den Gottesdienstbesuch), er hätte sie dort nicht einmal gesehen.
Im Fühjahr 2006 folgte die Konfirmation. Ihr Vater wollte das Ganze eigentlich nicht (er hatte sich schon vor ein paar Jahren mit vielen damaligen Freunden der Familie aufgrund anderer religiöser Ansichten zerstritten), und ihrer Mutter war alles zu viel. Gedankenschmiedin weiß nicht mal mehr, ob diese wegen der Angst & Panik überhaupt mit in der Kirche war oder nicht. Aber irgendwie haben sie auch diese Zeit herumbekommen.
Im Sommer 2006 ging ihre Mutter dann für mehrere Monate in eine Klinik. Gedankenschmiedin war viel auf sich allein gestellt. Auch davon weiß sie nicht mehr besonders viel. Nur noch, dass sie in dieser Zeit Vegetarierin wurde, langsam ohne es zu bemerken auf Öl und Butter verzichtet hat und endlich selbst bestimmen konnte, was sie essen wollte…
Oh, das ist ja krass, was du schon alles durch hast…Schon alleine der Verlust einer Schwester, mit solchen tiefgreifenden Folgen…und dann noch das mit deiner Mutter.
Und du konntest dich mit niemandem austauschen? Bei niemandem über die Träume reden, über die Trauer, über die Familienprobleme??
Das ist echt hart.
Da kann man schon von einem Trauma sprechen, oder?
Wen wundert es da noch, daß sich deine Seele irgendwie Luft machen wollte…daß du dich schneiden mußtest, depressiv bist, nichts ißt usw. usf. Nein, ehrlich, das ist kein Wunder. In so ner wichtigen Phase des Lebens solches Leid – das steckt man nicht so leicht weg.
Falls du jemals irgendwas therapiemäßiges machen solltest, hast du jedenfalls genug Themen, die verarbeitet werden müssen…
Sooo schade, daß in der Familie so schlecht damit umgegangen wurde…und jetzt ein leidendes Mitglied auch wieder nur „ignoriert“ wird.
Ich hoffe auf den Tag, wo jemand kommt und mit offenen Fragen dich „erlöst“. Irgendwann passiert es.
Ich wünsch dir viel Kraft…zum Leben.
Nein, da war nie wirklich jemand, mit dem ich hätte reden können. Mit meiner Mutter anfangs noch ein bisschen, aber das hat sich dann schnell eingestellt, als es ihr immer schlechter ging.
Ich weiß nicht, ob ich es als Trauma bezeichnen könnte. Klar, es war damals schon ziemlich schlimm für mich. Aber es gibt sicherlich schlimmere Schicksalsschläge…
Danke dir!!!
Ach Mensch… kein Wunder, dass es Dir nicht gut geht!! Solche Erlebnisse gehen doch ganz tief an die Substanz.
Viele Eltern und „Erwachsene“ können mit derartigen Schicksalsschlägen nur ganz ganz schlecht umgehen – liegt wahrscheinlich an der Erziehungsmethode dieser Generation und der Generation davor. Stichwort: „Nach außen hin alles in Ordnung.“ Erst recht können sie dann nicht begreifen, was das in einem kleinen Kind auslöst, noch dazu in sensiblen Kindern. Hier ist ganz viel Einfühlungsvermögen gefragt. Wenn man selbst schon mit sich kämpft, kann man das einfach nicht aufbringen.
Hast Du je versucht, mit Deinen Eltern in einem vertraulichen Gespräch darüber zu reden? Über Deine Probleme, wie schlecht es Dir mit verschiedenen Sachen geht? Einfach: „Mama, Papa, ich brauche Hilfe.“
Oder hast Du überlegt, eine Therapie zu machen?
Liebe Grüße und ganz viel Kraft beim Aufarbeiten dieser Sachen!
Ich und meine Eltern und ein vertrauliches Gespräch? Das passt irgendwie nicht zusammen. Schon lange nicht mehr. Es geht nicht. Mir fehlt das Vertrauen zu ihnen. Ich kann mich noch nicht mal am Geburtstag von ihnen umarmen lassen. Keine Ahnung warum das so ist… Aber ich kann ihnen nichts Persönliches anvertrauen.
Zu einer Therapie kann ich mich nicht überwinden. Ist mir alles zu peinlich. Ich müsste reden und das ist nicht so meine Stärke…
Danke!
Eine sehr traurige Vergangenheit … fühle mich regelrecht schlecht, wenn ich an meine Vergangenheit denke, die im Vergleich zu deiner so unglaublich „schmerzlos“ gewesen sein mochte. So entstand auch meine Sicht auf die Dinge, die jetzt so unglaublich schief laufen: „Ich bin an allem selbst Schuld, denn ich habe keinen Grund für das was ich fühle und denke“ Manchmal hätte ich gerne einen Grund …
Aber hier geht es nicht um mich, sondern um dich! Deshalb umarm ich dich an dieser Stelle mal ganz fest und lass dich nicht mehr los ❤ Kopf hoch.
So darfst du nicht denken. Aber ich verstehe dich ein bisschen. Ich denke oftmals auch, wenn ich irgendwelche schlimmen Lebensläufe von Leuten lese, dass ich mich eigentlich nicht so anstellen sollte…
Aber ich denke, das ist der falsche Ansatz. Es laufen immer sehr viele Faktoren zusammen, weshalb man zu dem Menschen wird, der man heute ist… (Gene, Umwelt, usw.).
Suche also die Schuld nicht bei dir, Liebes! ❤
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